Dabei steht fest: „Je früher interveniert wird, desto eher kann ein chronischer Verlauf der Krankheit verhindert oder manifeste Störungsbilder gelindert werden. Insofern tät es sich gut an, Mut zu fassen und die inneren Barrieren zu überwinden. Auch wenn Psychotherapie anstrengend ist, Zeit kostet und eine Regelmäßigkeit erfordert, sind ihre Erfolgschancen mittlerweile sehr groß – sofern die Bereitschaft des Betroffenen besteht, aktiv daran mitzuwirken“, erklärt der Leiter der bundesweit aktiven Selbsthilfeinitiative zu Zwängen, Phobien, Depressionen, Dissoziativen und Psychotischen Störungen, Dennis Riehle (Konstanz). Er ermutigt, sich bei Bedarf rechtzeitig um einen Platz in einer psychotherapeutischen Praxis zu kümmern und gibt dabei eine Orientierungshilfe, wie man die passende Anlaufstelle findet: „Manche Patienten bestehen darauf, Psychotherapie nur in einer Praxis wahrzunehmen, die in einer Mindestentfernung zu Wohnbereich und Arbeitsplatz liegt. Aus Angst davor, von Bekannten oder Arbeitskollegen beim Gang zur Therapie „beobachtet“ oder angesprochen zu werden. Die Sorge vor Rechtfertigung oder Erklärungsnot ist groß. Dabei gibt es keinerlei Grund, sich für die Inanspruchnahme einer Psychotherapie erläutern zu müssen. Denn sie ist kein Ausdruck von Schwäche, im Gegenteil: Mit ihr beweist man, das Leben wieder in die eigene Hand nehmen zu wollen. Und psychische Erkrankungen sind heute keine Einzelheit mehr, sondern ein Volksleiden“, sagt der 37-Jährige, der selbst seit 25 Jahren an multiplen seelischen Problemen leidet. Der Psychologische Berater führt deshalb aus: “ Wir sollten die Furcht vor Vorurteilen, Stigmatisierung und Ausgrenzung selbst als Thema in der Therapie ansprechen, um dort adäquate Aussagen zu finden, welche Reaktion auf etwaige Fragen oder Skepsis von Angehörigen oder Freunden angemessen ist. Grundsätzlich spricht nichts gegen eine Therapie an einem weiter weg liegenden Ort. Manche Praxen sind allerdings derart überlastet, dass sie nur Patienten aus dem unmittelbaren Umkreis annehmen können. Es besteht zwar grundsätzliche Wahlfreiheit beim Aussuchen des Psychotherapeuten. Gerade, wenn der Wohnort des Patienten aber weit entfernt ist und die Praxis daraus ernsthafte Beweggründe für eine Ablehnung einer Behandlung formuliert, kann dies unter Umständen rechtens sein“, so der Sozialberater in seiner aktuellen Stellungnahme.
„Frauen seien sensibler, Männer eher rationaler – mit diesen Grundbeschreibungen aus der Gesellschaft werden Rollenbilder definiert, die wir im Kopf haben – und an denen möglicherweise auch etwas Wahres haften könnte. Oftmals kommen dieselben Geschlechter untereinander besser klar, gerade dann, wenn es um das Besprechen von persönlichen Problemen geht. Deshalb ist es völlig legitim, dass sich auch ein weiblicher Patient eher von einer Psychotherapeutin behandeln lassen will, während das männliche Gegenüber eher einen Therapeuten wählt. Dennoch sollte die Entscheidung über den passenden Psychotherapeuten nicht vornehmlich an dessen Geschlecht festgemacht werden. Viel eher sind seine therapeutische Ausrichtung, mögliche Spezialisierungen, Erfahrungswerte und vor allem die stimmige Vertrauensbasis wesentlichere Kriterien“, meint Riehle. „Mittlerweile werden in Deutschland vier verschiedene Therapieformen durch die Krankenkassen anerkannt und die Behandlung nach ihrem Schema entsprechend bezahlt. Für den Patienten stellt sich also vor Inanspruchnahme der Psychotherapie die Frage, welche therapeutische Ausrichtung für sein Problem die passendste ist. Eine pauschale Aussage verbietet sich, dennoch kann festgehalten werden: Die wesentliche Fragestellung bei der Erörterung der individuell besten Therapieform ergibt sich aus der Entscheidung, ob vornehmlich Ursache oder Symptomatik angegangen werden soll. Oftmals ist Patienten bewusst, dass biografische Gründe einen erheblichen Anteil an einer psychischen Erkrankung haben. Dennoch wollen viele Betroffene – beispielsweise bei traumatischen Ereignissen – keine Aufarbeitung, weil sie sich davor ängstigen, nochmals alles aufzuwühlen#. Und tatsächlich kann es durchaus sinnvoll sein, auf sie zu verzichten und sich stattdessen allein auf die Bewältigung der wesentlichen Krankheitszeichen zu konzentrieren. Trotzdem scheint klar, dass eine Ursachenforschung durch mühsames und langwieriges Engagement zwar belastend sein kann, dennoch vermag sie oftmals zu nachhaltigeren Erfolgen zu führen. Allerdings ist auch hier der alleinige Patientenwille ausschlaggebend: Soll eine schnellstmögliche Linderung der Symptome erreicht werden – oder steht vor allem eine langfristige Stabilisierung im Vordergrund“.
Der Journalist, der mittlerweile im Rahmen der Selbsthilfearbeit etwa 10.500 Betroffene und Angehörige beraten hat, sagt: „Die zwei wichtigsten Therapieansätze in Deutschland sind die Verhaltenstherapie und die tiefenpsychologisch fundierte Therapie. Während man bei der ersten zwischen einer kognitiven (also auf die Arbeit mit der eigenen Vernunft fokussierten) Ausrichtung und einer expositorischen (durch gezielte Konfrontation mit reizauslösenden Gefühlssituationen umgehen zu lernen und das pathologische Verhalten dadurch zu normalisieren) unterscheidet, ist zweite vor allem darauf ausgerichtet, von der Seele zu sprechen und psychodynamische Faktoren zu ermitteln, die die Symptomatik aufrechterhalten (Erfahrungen und Erlebnisse aus der Vergangenheit, bis hin zu Kindheit, Schwangerschaft und Geburt). Damit geht es der Verhaltenstherapie mit maximal 80 Stunden pro genehmigtem Therapieintervall vor allem um die praktische Bewältigung des Lebensalltags mit einer psychischen Erkrankung und deren Symptomen. Die tiefenpsychologische Therapie (max. 100 Stunden) will dagegen eher auslösende Faktoren und Funktionalitäten der Krankheit erkunden und bearbeiten. Insofern bedarf es bei erstgenannter insbesondere der Offenheit des Patienten, eingefahrene Verhaltensmuster aufzubrechen und sich fehlgeleiteten Emotionen zu stellen. Bei zweitgenannter muss der Betroffene eher das ausführliche Gespräch und die Ursachensuche bevorzugen. Als weitere Therapieform ist in Deutschland auch die Analytische Psychotherapie zugelassen, die vor allem mit den verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen des Menschen arbeitet und davon ausgeht, dass innere Konflikte Denken, Handeln und Fühlen beeinflussen. Gemäß der Freud’schen Lehre wird betrachtet, wie das Ich des Menschen durch Obsessionen des Über-Ich und Gefühlsregungen des Es geleitet wird – und wie bei einem Ungleichgewicht zurück zur Balance der drei Akteure gefunden werden kann. Die Psychoanalyse (max. 300 Stunden) ist besonders dann in Erwägung zu ziehen, wenn rivalisierende Emotionalitäten in der Seele verdächtig sind. Besteht also die Vermutung einer inneren Zerrissenheit – und kommen dazu mögliche Entwicklungsdefizite, kann diese Therapieoption zielführend sein“, schildert Riehle aus seiner Erfahrung.
„Ähnlich narrativ wie die Gesprächspsychotherapie wirkend, ist neuerdings auch die Systemische Therapie (höchstens 48 Stunden) als vierte Therapieform zugelassen. Sie betrachtet den Menschen in den unterschiedlichen Systemen, in denen er sich bewegt (Familie, Partnerschaft, Arbeitsstelle, Sportverein, Freundeskreis…), und betrachtet deren internen Prozesse, aber auch ihre wechselseitigen Auswirkungen aufeinander. Wesentliches Element in dieser Therapieform ist die Beziehungsarbeit, um falsch laufende Verbindungen entsprechend zu überprüfen, zu heilen, zu kappen oder wiederherzustellen. Dabei bedient man sich vor allem der Kommunikationstherapie, um Gesprächsführung mit den Mitmenschen in den einzelnen Systemen zu verbessern und Techniken zu erlernen, wie mithilfe von konstruktiven und lösungsorientierten Ansätzen eine angemessene Harmonie zwischen den Systemen hergestellt werden kann“, so Riehle, der anschließend ergänzt: „Bezüglich der Kostenübernahme gilt: Sie ist vorab bei der Krankenkasse durch einen entsprechenden Antrag des Psychotherapeuten einzuholen. Nach Abschluss der Psychotherapie (deren zunächst gewährte Stundenzahl durch einen Verlängerungsantrag auf die genannten maximalen Stundenzahlen erhöht werden kann, sofern nicht bereits mit der Erstbewilligung ausgeschöpft) sollte ein neues Intervall frühestens nach zwei Jahren beginnen. Eine verpflichtende Therapiepause existiert zwar nicht, dennoch scheint diese Auszeit sehr ratsam, um das in der Therapie Erlernte praktisch und eigenverantwortlich anzuwenden und in einen selbstbestimmten Lebensalltag zurückzukehren. Bei medizinischer Notwendigkeit kann jedoch auch bei Erreichen der maximalen Stundenzahl eine weitere Verlängerung bewilligt werden. Bezüglich der Frequenz der Psychotherapie sollte zunächst ein enger Rhythmus gewählt werden. Oftmals sind in einer krisenhaften Situation sogar mehrere Sitzungen pro Woche möglich. Beim Verdacht auf Vorliegen einer seelischen Erkrankung sollte zunächst der Hausarzt aufgesucht werden. Er kann im Zuge der psychosomatischen Grundversorgung eine Erstbeurteilung treffen, ob es sich um eine pathologische Symptomatik handeln könnte. Sofern sich diese Vermutung nach den ersten Untersuchungen und Gesprächen verfestigen sollte, verweist er in der Regel an einen Psychotherapeuten. Da die Therapieplätze in Deutschland rar sind und meist monatelange Wartezeiten bestehen, lohnt es sich, schnellstmöglich nach einem solchen zu suchen. Dabei kann der Hausarzt mit einer Therapeutenliste eine erste Hilfe sein, auch die Krankenkasse stellt eine solche in der Regel für die Versicherten bereit. Zudem kann der Patient im örtlichen Telefonbuch oder auf entsprechenden Webplattformen selbst nach einem Psychotherapeuten in der Umgebung Ausschau halten“, erläutert Dennis Riehle aus der praktischen Arbeit mit Betroffenen und ihren Herausforderungen.
„Danach lohnt es sich, sich bei mehreren Therapeuten auf die Warteliste setzen zu lassen (Wichtig: Sobald Sie einen Therapieplatz erhalten haben, telefonieren Sie bitte die restlichen Therapeuten ab, damit dort der Warteplatz für andere Patienten freigegeben werden kann). Gelingt die Suche nach einem Therapeuten nicht in angemessener Zeit (spätestens nach vier Wochen sollte ein Wartelistenplatz respektive Zusage erhalten worden sein), so kann die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung in Anspruch genommen werden. Sie ist unter Tel.: 116 117 bundesweit erreichbar. Dort wird – ohne das Vorliegen einer Überweisung – innerhalb von einer Woche ein Termin zur Psychotherapeutischen Sprechstunde vermittelt, der spätestens nach vier Wochen stattfinden muss. Andernfalls muss die Servicestelle einen ambulanten Termin in einem Krankenhaus organisieren. Sofern der Hausarzt eine entsprechende Verordnung über Dringlichkeit ausgestellt hat, erfolgt binnen 7 Tagen eine Zuweisung zur Akuttherapie und probatorischen Sitzungen mit Beginn innerhalb der kommenden zwei Wochen. Für erstgenannten Fall (nicht-akut) findet ein Gespräch in der 50-minütigen Psychotherapeutischen Sprechstunde zum Zwecke der Feststellung über Notwendigkeit und Eiligkeit einer Psychotherapie statt. Erst danach kann der Psychotherapeut diesen Bedarf attestieren. Anschließend kann versucht werden, bei demselben Psychotherapeuten probatorische Sitzungen (zwischen zwei und vier Sitzungen mit jeweils 50 Minuten zum gegenseitigen Kennenlernen und Ausprobieren, ob ein Vertrauensverhältnis entstehen kann) und eine spätere Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Prinzipiell ist dies dann aber auch bei einem anderen Therapeuten möglich. Steht dem Patienten nach der Sprechstunde kein zeitnaher Therapieplatz in Aussicht, kann er nach einem unzumutbaren Zeitraum (spätestens nach drei Monaten) einen approbierten, aber nicht-kassenzugelassenen Psychotherapeuten als Privatzahler aufsuchen und sich die anfallenden Therapiekosten im sogenannten „Kostenerstattungsverfahren“ auf Antrag vorab durch die Krankenkasse erstatten lassen. Hierbei gilt, dass der Psychotherapeut in angemessener Zeit einen Therapieplatz zur Verfügung stellen muss und für den Patienten in hinnehmbarer Entfernung liegt. Neben der Inanspruchnahme von Psychotherapie ist es besonders bei mittleren und schweren Krankheitsbildern oftmals angezeigt, ergänzend eine medikamentöse Behandlung in Anspruch zu nehmen. Diese psychopharmakologische Therapie kann von einem Facharzt für Psychiatrie oder Facharzt für Psychosomatische/Psychotherapeutische Medizin eingeleitet und gegebenenfalls vom Hausarzt fortgeführt werden. Insofern ist die gleichzeitige Inanspruchnahme eines Psychotherapeuten (welcher nicht befugt ist, Arzneimittel zu verschreiben) und eines Facharztes zulässig und sinnvoll – sofern nicht beide Eigenschaften in einer Person vereint sind. Psychotherapie kann von komplementären Behandlungsverfahren, aber auch von niederschwelligen Angeboten wie Beratung und Selbsthilfe flankiert werden“, so Riehle abschließend – und verweist auf die Unterstützung der Selbsthilfe.
Die Psychosoziale Mailberatung der Initiative ist über die Webadresse www.selbsthilfe-riehle.de bundesweit kostenlos erreichbar.
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