Cellendes Hydrogele vermeiden Tierversuche und werden Game-Changer in der Forschung
(Stuttgart/Tübingen) – Die Cellendes GmbH aus Kusterdingen im Landkreis Tübingen entwickelt und vertreibt Hydrogele, mit denen verschiedenste dreidimensionale Zellkulturen hergestellt werden. Diese Zellkulturen, die oft aus humanen Zellen bestehen, können die komplexen Funktionen von Organen wie Haut oder auch von krankhaftem Gewebe, wie zum Beispiel Tumorgewebe, abbilden. Sie haben daher ein großes Potenzial bei der Entwicklung von Medikamenten oder der Testung von giftigen Substanzen eingesetzt zu werden. Da die Übertragbarkeit von Forschungsergebnissen aus tierexperimentellen Studien auf den Menschen zunehmend kritisch gesehen wird, bieten die Zellkultursysteme zahlreiche Vorteile – nicht nur als Ersatz für Tierversuche. Die Unternehmensgründer Dr. Brigitte Angres und Dr. Helmut Wurst entwickeln ihre Hydrogele ständig weiter und beteiligen sich an internationalen Forschungsprojekten. Bei FoBioGel ist Cellendes Projektpartner des NMI Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut an der Universität Tübingen. Außerdem arbeitet das Unternehmen bei B-BRIGHTER, einem EU-finanzierten Projekt zum Thema Bioprinting, mit.
Für die dreidimensionale Kultur von differenzierten Primärzellen und Zelllinien wird im Labor häufig eine spezifische extrazellulären Matrix verwendet, für die ein Extrakt aus Mäuse-Tumoren benötigt wird. Für die Gewinnung werden den Tieren Sarkoma-Tumoren eingepflanzt. Das Gewicht des Tumors beträgt dabei bis zu 20 Prozent des gesamten Körpergewichts der Maus bis diese getötet wird, um das Gewebe zu entnehmen und für die dreidimensionale Zellkultivierung aufzubereiten. Die Methode gilt seit Jahren als Standard, auch weil dieser Extrakt das Wachstum jeglicher Zellen enorm beschleunigt. Ein Nachteil ist, unabhängig vom ethischen Aspekt, die „Unberechenbarkeit“ der Kultur, da es sich um eine sehr komplexe, zum Teil unbekannte Zusammensetzung der extrazellulären Matrix handelt, die zudem noch von Charge zu Charge variieren kann. Außerdem sind tierische Matrixkomponenten nicht immer für eine humane Zellkultur geeignet.
Synthetisches Hydrogel löst Dilemma
Die Cellendes GmbH aus der BioRegion STERN ist vor 15 Jahren angetreten, dieses Dilemma aufzulösen. Die Biologen Dr. Brigitte Angres und Dr. Helmut Wurst entwickelten ein damals völlig neuartiges synthetisches Hydrogel, das sämtliche Anforderungen der Forschung für die dreidimensionale Kultivierung von Zellen erfüllt: Es ist vollsynthetisch, klar definiert, völlig neutral – und ethisch unbedenklich. Aber es zwingt die Forscher auch zum Umdenken. Sie müssen verstehen, was die Zellen in ihrem speziellen Projekt benötigen, um die entsprechenden Kultivierungs-Anreize zu schaffen, damit sie sich auf die gewünschte Weise verhalten. Dafür lassen sich die biomimetischen Faktoren wie etwa die Steifigkeit des Gels beliebig variieren. Cellendes bietet hierfür eine Plattform mit verschiedenen Modulen und zellansprechenden Motiven an, damit sich jeder Forscher „seine“ Zellkultur individuell zusammenstellen kann.
Dass Hydrogele die Zukunft der Kultivierung sind, beweisen auch die zahlreichen internationalen Forschungsprojekte, an denen die Cellendes GmbH beteiligt ist. Aktuell arbeitet das Team beispielsweise gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Schweden, Spanien und Israel an „B-BRIGHTER“. Das EU- finanzierte Projekt hat das Ziel, bis 2025 Gewebezüchtungen mittels Bioprinting zu optimieren. Bioprinting gilt als vielversprechende Methode zur Herstellung von funktionalen Geweben mit physiologischen Eigenschaften. Dieses additive Fertigungsverfahren ermöglicht es, lebende Zellen zusammen mit gerüstbildenden Hilfsstoffen zu größeren Gewebestrukturen zu „drucken“. Bisher wurde schichtweise von unten nach oben gedruckt, was aber mit erheblichen Herausforderungen bezüglich der Lebensfähigkeit der Zellen sowie mit technischen Beschränkungen hinsichtlich der Druckgeschwindigkeit und der räumlichen Auflösung verbunden war. Im Rahmen von B-BRIGHTER wird ein Top-Down-Lithografieverfahren entwickelt, bei dem mit Hilfe digital gesteuerter Beleuchtung im Hochgeschwindigkeitsmodus selektiv dreidimensionale Bereiche zum Hydrogel vernetzt werden. Mit diesem Ansatz lassen sich schnell funktionale 3D-Geometrien mit hoher räumlicher Auflösung herstellen.
Lösung auf viele Fragen der Forscher
Die neuen Hydrogele von Cellendes spielen dabei eine entscheidende Rolle, denn – im Gegensatz zu herkömmlichen Hydrogelen, die „gelieren“, sobald die Ingredienzien vermischt werden – entstehen sie erst, wenn sie mit einem Speziallicht bestrahlt werden. Diese photoinduzierbaren Hydrogele könnten daher für die Forschungsgruppe zum Game-Changer werden, wenn sie anspruchsvolle Gewebemodelle von Augenhornhaut oder Darmwand erstellt. Gerade der Nachbau der Zellen von Darmgewebe in einem Modell, das die Nahrungsaufnahme simuliert, gilt als hochkomplex – doch die neuen Gele ermöglichen es, Kanäle zu drucken oder die typischen Mikrovilli-Strukturen des Darms zu generieren.
Nicht minder spannend ist das Projekt FoBioGel, bei dem Cellendes Projektpartner des NMI (Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut) an der Universität Tübingen ist. Auch in diesem Verbundvorhaben entwickelt das Unternehmen foto- strukturierbare, biochemisch funktionalisierbare Hydrogele. Hier funktioniert das Prinzip jedoch umgekehrt: Die zunächst spontan gebildeten Gele werden durch Beleuchtung wieder abgebaut. „Diese Hydrogele sind nicht nur dreidimensional, sondern bieten 4D: Wir können verschiedene Festigkeiten zu verschiedenen Zeitpunkten der Kultur bestimmen, je nachdem wann das Licht eingesetzt wird“, erklärt Dr. Angres. „Sie sind eine Lösung auf viele Fragen der Forscher, aber dieses Potenzial ist noch weitgehend unbekannt und es ist auch noch kein kommerzielles Produkt dieser Art auf dem Markt“. Cellendes will diese Marktlücke besetzen.
Die Gele sollen als biomimetische Extrazellulärmatrix im 3D-Biodruck und in neuartigen, komplexen In-vitro Modellen (Organ-on-Chip) für die Wirkstoffentwicklung und die personalisierte Medizin eingesetzt werden. So sollen etwa sehr feine Strukturen hergestellt werden, um zum Beispiel spezielle Barrieren auf den Chips zu bilden. Am NMI werden diese Eigenschaften und das Anwendungspotenzial der neu entwickelten Hydrogele sowie deren Verwendung als Biotinte für den 3D-Biodruck evaluiert. Perspektivisch ist auch hier das Ziel, Gewebemodelle zu realisieren, die die 3R-Vorgaben – Replacement, Reduction, Refinement – erfüllen. Tierversuche sollen, wo immer möglich, durch geeignete Alternativ- oder Ergänzungsmethoden ersetzt werden (Replacement), ihre Anzahl und die darin eingesetzten Versuchstiere sind auf ein unumgängliches Maß zu minimieren (Reduction) und die Belastungen (Leiden, Schmerzen, Stress) für die Tiere in solchen Versuchen müssen auf das unerlässliche Mindestmaß beschränkt werden (Refinement).
„Die Bürokratie ist für kleine Unternehmen ein Killer“
Die Hydrogele von Cellendes sind also höchst bedeutsam für den medizinischen Fortschritt und tragen den gewachsenen ethischen Anforderungen Rechnung. Das Biotechunternehmen bekommt zwar Anfragen aus der ganzen Welt, aber noch stehen die Kunden nicht Schlange. 2022 ist man in neue Räume im Technologiepark Tübingen Reutlingen (TTR) umgezogen und hat jetzt ein eigenes Labor – mit dem entsprechenden Aufwand: „Die Bürokratie ist für kleine Unternehmen ein Killer“, klagt Dr. Wurst. Dabei ist Cellendes noch gar nicht im medizinischen Bereich tätig, sondern ausschließlich in der Forschung. „Die Translation von Forschungsprodukten in pharmazeutische Produkte ist extrem aufwändig“, erklärt Dr. Wurst. Nichtsdestotrotz gibt es bereits medizinische Anwendungen basierend auf der Cellendes Hydrogeltechnik: Die TETEC AG aus Reutlingen kombiniert sie mit autologen Knorpelzellen, um defekte Knorpel, beispielsweise fürs Knie, zu regenerieren.
Dr. Angres und Dr. Wurst haben in den vergangenen 15 Jahren viel erreicht. Sie haben ein außergewöhnliches Produkt auf den Markt gebracht, das die Grundlagenforschung sowie die Forschung und Entwicklung in Pharmazie und Medizin grundlegend verändern kann. Und das natürlich nicht nur vielen Mäusen viel Leid ersparen kann. Leider mussten die beiden Biologen auch erkennen, dass ein solcher Paradigmenwechsel Zeit benötigt. Es muss immer wieder neu belegt werden, dass das Verfahren geeignet ist, die herkömmlichen Kulturen zu ersetzen. Auch die Vergleichbarkeit von Studienergebnissen, die mit Extrakten des Mäusetumors und mit den neuen Hydrogelen gewonnen wurden, muss gegeben sein. Trotz der Herausforderungen durch Bürokratie und wirtschaftliche Zwänge, haben die Cellendes-Gründer ihren Schritt in die Unabhängigkeit nie bereut, betont Dr. Wurst: „Wir sind gerne unser eigener Chef.“
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https://www.nmi.de/projekte-1/projektdetail/fobiogel
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Die BioRegio STERN Management GmbH ist Wirtschaftsentwickler für die Life-Sciences-Branche. Sie fördert im öffentlichen Auftrag Innovationen und Start-ups und trägt so zur Stärkung des Standorts bei. In den Regionen Stuttgart und Neckar-Alb mit den Städten Tübingen und Reutlingen ist sie die zentrale Anlaufstelle für Gründerinnen und Gründer, Unternehmerinnen und Unternehmer.
Die BioRegion STERN zählt zu den großen und erfolgreichen BioRegionen in Deutschland. Alleinstellungsmerkmale sind die bundesweit einzigartige Mischung aus Biotechnologie- und Medizintechnikunternehmen sowie die regionalen Cluster der Automatisierungstechnik, des Maschinen- und Anlagenbaus.
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